Ein Experiment
Meine Tochter liebte schon ganz früh das Versteckspielen. Immer wieder schallte es von irgendwoher "Die Anne ist weg!" und ich sollte sie dann suchen.
Das war am Anfang ziemlich lustig, weil mindestens das halbe Kind aus dem Versteck herausschaute und dabei herumwackelte und vor sich hingluckste.
Ich tat aber so, als würde ich sie nicht sehen und suchte angestrengt.
Interessanterweise merkte sie das schon sehr früh: "Warum tust du immer so, als wenn du mich nicht findest?"
Ich ließ mich nicht beirren und machte immer so weiter: Zuerst verschaffte ich mir einen Überblick, wo sie wirklich war und dann suchte ich zuerst alles andere ab oder tat so als würde ich aufgeben.
Witzigerweise fand ich sie dann oft viel schneller als erwartet, weil "mein erster Blick" einer Falle bzw. Irreführung von ihr aufgesessen war und da wo ich sie nicht vermutete, war sie dann tatsächlich.
Ihre Versteckfähigkeiten begannen sich erstaunlich zu entwickeln.
Sie führte mich in die Irre, indem sie Socken oder leere Kleidungsstücke irgendwo herausschauen ließ.
Abgesehen davon, dass man sie nicht mehr sah, begann sie Szenarien zu entwerfen, um neue Verstecke zu erschließen. Sie entleerte zum Beispiel den Inhalt einer Sporttasche übers ganze Zimmer verteilt und die Sporttasche lag wie achtlos hingeworfen verkehrt herum auf dem Boden. In der Öffnung der Sporttasche aber steckte ganz klein zusammengerollt und nicht sichtbar das Kind.
Sie lernte, sich unter einer Decke so flach zu machen, dass man von außen keinen Menschen darunter vermutete.
Interessant ist diese Entwicklung deswegen, weil ich sie ABSOLUT NIEMALS kritisiert oder auf ihre Fehler und Schwächen hingewiesen hatte.
Sie entwickelte diese Fähigkeiten von ganz allein.
Die gegenwärtige Vorstellung, dass keine Entwicklung erfolgt, wenn ein Mensch nicht immer wieder auf seine Fehler hingewissen und kritisiert wird, stimmt ganz einfach nicht.